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Theosophie entdecken

6 – Unendliche Unvollkommenheit

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Wenn wir unsere Erde, Gaia, betrachten, ist es schwer zu übersehen, dass wir zusammengehören. Viele von uns sind irgendwo auf diesem Foto. Wenn wir es so betrachten, hilft es uns daran zu denken, dass wir alle buchstäblich zusammen gehören – wieviele Pfade es auch immer geben mag, grundlegend befinden wir uns auf demselben Pfad. Wenn wir das Bild genau betrachten, sehen wir ein Lebewesen, beseelt wie wir, evolvierend und wachsend wie wir. So wie Gaia evolviert, evolvieren wir und umgekehrt.

Aber wohin evolvieren wir? Heilige Texte verkünden oft, dass das höchste Ziel Vollkommenheit ist. Zum Beispiel berichtet die Prajñāpāramitā Sūtra, eine der wichtigsten Lehren des Mahāyāna Buddhismus, von sechs Vollkommenheiten (von Geben, Moral, Geduld, Kraft, Konzentration und Weisheit), aber sollen wir glauben, dass es eine Moral- oder Geduldebene gibt, die nicht verbessert werden kann? Die Bibel sagt uns: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Matthäus 5:48). Vollkommenheit bedeutet gewöhnlich, dass keine weitere Evolution möglich ist und impliziert klar ein schließliches und definitives Ende. Man fragt sich also, ob Vollkommenheit eine tatsächliche Realität oder eine funktionale Vorstellung ist; ein erreichbares oder ein wertvolles Ziel. Wenn wir die Immensität unseres Universums, sichtbar und unsichtbar, bedenken, können wir uns wirklich einen endgültigen Abschluss vorstellen, eine letzte Episode, jenseits der keine weiteren Kapitel geschrieben werden, eine Unendlichkeit, die endet?

Die Theosophie spricht nur von vorübergehenden Enden, relativen Vollkommenheiten und Mini-Vollendungen, bis die nächste Phase der Reise beginnt. Mit ihrer Implikation, dass etwas vollendet wurde, steht Perfektion immer in Beziehung zu einem Kontext. Könnte es in einem unendlichen Universum überhaupt eine schließliche Perfektion oder eine endgültige Zahl geben? Während wir so an vorübergehende Grenzen, zu begrenzten Ruhepunkten und momentanen Vollkommenheiten gelangen können, hält die theosophische Philosophie daran fest, dass es im Herzen unserer Pilgerfahrt ein endloses, voranschreitendes Werden gibt:

Die Geheimlehre lehrt die fortschreitende Entwicklung von allem, sowohl von Welten als auch von Atomen; und diese erstaunliche Entwicklung hat weder einen erfassbaren Anfang noch ein vorstellbares Ende. Unser „Universum“ ist nur eines von einer unendlichen Zahl von Universen, … wobei jedes von ihnen zu seinem Vorgänger in Beziehung einer Wirkung und zu seinem Nachfolger in der einer Ursache steht.

Das Erscheinen und Verschwinden des Weltalls wird als das Aus- und Einatmen des „Großen Atems“ geschildert, welcher ewig und – als Bewegung – einer der drei Aspekte des Absoluten ist – die beiden anderen sind Abstrakter Raum und Dauer. Wenn der „Große Atem“ ausgestoßen wird, heißt er der Göttliche Atem und wird als das Atmen der Unerkennbaren Gottheit – der Einen Existenz – betrachtet, welche gewissermaßen einen Gedanken ausatmet, der zum Kosmos wird … Desgleichen verschwindet, wenn der göttliche Atem eingezogen wird, das Weltall wieder in den Schoß „der Großen Mutter“, die dann „in ihre unsichtbaren Gewänder gehüllt“ schläft.

– H. P. Blavatsky, The Secret Doctrine 1:43, Die Geheimlehre 1:44

Das wurde 1888 geschrieben, als die westliche Wissenschaft glaubte, dass es im Universum nur eine Galaxie gibt – unsere. In ihren Schriften beschreibt H. P. Blavatsky eingehend, wie das Universum immer auf der Grundlage von Prinzipien handelt. Eines jener Prinzipien ist, dass jede Manifestation periodisch erfolgt, zyklisch. „Manifestieren“ bezieht sich auf alles, das eine Form annimmt – Gedanken, Ideen, Gefühle und auch sichtbare physische Formen. Auf einem solchen Verständnis für Zyklen beruhend können wir die Philosophie von Karma (Zyklen des Handelns) und Reinkarnation (Zyklen der Wiedergeburten) anerkennen.

Die eigentliche Natur des Geistes, der sich selbst durch Materie zum Ausdruck bringt, ist zyklische Bewegung. Der Wechsel von Tag und Nacht, von Licht und Dunkelheit ist so tief mit unserem Sinn für die Zeitfolge verbunden, dass man leicht übersehen kann, dass die planetarischen Rhythmen aus der Rotation der Erde um ihre Achse entstehen. Wenn man in einem Zimmer sitzt, ist die Illusion der Ruhe so real, dass man schnell vergessen kann, dass Gaia, und wir mit ihr, am Äquator mit ungefähr 26 Kilometern pro Minute rotiert – das sind etwa 1.500 Kilometer pro Stunde (36.000 Kilometer pro Tag). Gleichzeitig rast das Wesen, das wir unser Sonnensystem nennen, mit 180 Kilometern pro Sekunde um sein galaktisches Zentrum durch den Raum. Die taumelnde Erde und Sie und ich flitzen rund um die Sonne und durcheilen dabei jährlich mehr als 880 Millionen Kilometer unerforschten Raums – wobei wir die ganze Zeit über innerhalb unseres Milchstraßen-Galaxis-Raumschiffs getragen werden und mit einer Geschwindigkeit von 300 Kilometern pro Sekunde dahinschießen. Wenn wir unsere Geburts- und Jahrestage in den Kalender eintragen, denken wir vielleicht an unsere Tage, unser Leben, unsere Jahre, die immer wieder kreisend dorthin zurückkehren, wo sie ihren Ausgang nahmen, aber eigentlich nehmen wir an einer Reise durch brandneues Territorium im Raum teil: Jede Sekunde sind wir an einem neuen Ort, obwohl uns die vertrauten Orientierungspunkte der Tag-und-Nacht-Gleichen und Sonnenwenden geschenkt sind.

Wenn wir darüber nachdenken, können wir erkennen, dass alles – Seelen, Gedanken, Menschen – seinen eigenen Rhythmus und seine eigene Bewegung hat. Die Erde umkreist die Sonne, der Mond die Erde und die Jahreszeiten, die aus diesem Herumwirbeln und Drehen entstehen, sind Parallelen zu den Zyklen von Geburt, Erblühen, Tod und Wiedergeburt, an denen wir psychologisch, intellektuell und spirituell teilhaben. Zyklen innerhalb von Zyklen: Unser Blut pulsiert, unser Atem zirkuliert und in der Nacht bewegen wir uns durch Schlafzyklen. Als Kinder der Sonne, des Mondes und der Erde nehmen wir gemeinsam mit ihnen an fortlaufenden Zyklen der Evolution und Involution teil, inneren und äußeren, die aus dem universalen Puls des Kosmos – der seinerseits das Herz des Herzens der Göttlichkeit als Zentralsonne hat – hervorfließen und mit ihm synchron sind. Die Ähnlichkeit der Struktur eines Atoms mit der des Sonnensystems betrachtend können wir uns sogar vorstellen, wie unsere Körper aus Miniatur-Sonnensystemen zusammengesetzt sind. Jedes von ihnen ist aus unzähligen Leben aufgebaut. Drei oder vier Tage nach der Befruchtung eines menschlichen Eies hat es sich tatsächlich geteilt und vervielfältigt und ist selbst so gewachsen, dass es wie ein kleiner Planet aussieht.

Genauso wie sich jeder von uns als ein Wesen wahrnimmt, so ist auch das Sonnensystem ein Wesen. In der Hindutradition wird unser gesamtes Sonnensystem als das Ei Brahmas bezeichnet. Es kann betrachtet werden als

ein gewaltiger, eiförmiger, zusammengesetzter, im Raum schwebender Körper. Wenn ein Astronom auf einem fernen Globus in den stellaren Tiefen unser ‘Ei des Brahmā’ sehen würde und wenn er es von der geeigneten höheren Ebene oder Welt aus sehen könnte, dann würde ihm unser ganzes Sonnensystem als ein eiförmiger Lichtkörper erscheinen – als ein eiförmiger, unauflöslicher Nebel, … zusammengesetzt aus konzentrischen Sphären, die ihren Mittelpunkt in der Sonne haben. Jede einzelne dieser Sphären ist eine kosmische Welt. Ihr Herz – das Zentrum jeder einzelnen – ist die Sonne. Die Welt oder Sphäre unserer Erde ist eine dieser Sphären. Sie umgibt die Sonne als eine Sphäre dichter Substanz und der Kern dieser Sphäre oder in diesem Ei – denn das ist es – ist das, was wir gewöhnlich unsere Erde nennen. Das Gleiche gilt für die Sphäre des Merkurs, für die Sphäre der Venus, für die Sphäre des Mars, des Jupiters und des Saturns …

– G. con Purucker: Die vier heiligen Jahreszeiten, S. 17-18

Der Umlauf der Erde ist also nicht bloß ein unsichtbarer Durchgang, sondern beschreibt eigentlich den Umriss des Wesens der Erde. Der Körper des Planeten, den wir sehen, ist ein vorübergehender Fokus für die spirituellen und materiellen Kräfte jenes Wesens. Die Umlaufbahn der Erde liegt innerhalb des Umlaufs von Mars, wie eine russische Matroschka-Puppe, nicht wie die festgelegten kristallinen Sphären, die sich die meisten vorstellen, sondern mehr wie einander völlig durchdringende Reiche. Wie Ezekiel sagte: „Räder innerhalb von Rädern.“ Die Umlaufbahn von Mars liegt, Zwiebelschalen gleich, innerhalb der von Jupiter, und die Umlaufbahn des Sonnensystems rund um das galaktische Zentrum beschreibt noch eine weitere Ebene oder ein weiteres Reich oder eine andere Bewusstseinswelt, belebt mit einer unendlichen Anzahl von Bewusstseinsarten.

Wenn wir unsere spiralförmige Galaxie betrachten, beginnen wir zu verstehen, worauf sich das Prajñāpāramitā Sūtra beziehen mag, wenn es von „all den bewussten Wesen in diesem Milliarden-Weltsystem“ spricht. Jeder Planet, Mond und Stern ist ein Ausdruck, ein vorübergehender Brennpunkt eines kosmischen Wesens, das sich in verschiedenen Welten oder Reichen manifestiert und von Wesenheiten und Bewusstseinsarten bevölkert ist – konzentrische Sphären, von denen jede alle anderen miteinschließt. Das ist die evolutionäre und revolutionäre Struktur des Universums – des Universums um uns herum genauso wie jenes in uns. Wir Menschen sind Zellen im Körper der Erde, des Sonnensystems und der Galaxie; und genauso wie unser Körper aus lebendigen Bewusstheiten aufgebaut ist, so ist auch jeder Einzelne von uns ein lebendiger Teil des Planeten Erde. Wir können uns vorstellen auf der Erde zu leben, aber wir leben in ihr so wie wir in der Sonne leben. Die Sterne sind Millionen von Kilometern entfernt, während des Tages für uns unsichtbar; trotzdem ist immer irgendein Aspekt von ihnen anwesend – ungesehen, weit weg, aber gegenwärtig.

Der wahre Mensch ist unsichtbar. Jeder von uns könnte ein Auge verlieren oder ein oder zwei Gliedmaßen und doch noch er selbst bleiben (es ist seltsam darüber nachzudenken, auf wie viel von unserem physischen Körper wir verzichten und doch noch gegenwärtig sein könnten). Wir sind essenziell unsichtbare Wesen, die sich durch eine Vielfalt von Vehikeln des Geistes, des Denkens und der Wünsche manifestieren, und wir sind auch kosmische Reisende. Wenn die Inkarnation auf Erden beginnt, tragen wir einzellige „Raum“-Anzüge. Unsere Körper verändern sich, unsere Vehikel verändern sich, das Leben schreitet voran. Wie die Sonne, die die Planeten in ihre Umlaufbahnen zieht, sammelt und hält unsere göttliche Sonne alle Aspekte unseres Wesens in einem kohärenten Ganzen. Wir sind alle wie ein Sonnensystem mit spirituellen Kräften, die durch unsere innere göttliche Sonne strömen. Und sehr oft sind wir auch wie jene Teleskope, von denen William Q. Judge schrieb, und zeigen dorthin, wo das Reale nicht ist, wobei wir vergessen, uns nach innen zu wenden, zu der unsichtbaren Sonne im Herzen unseres Wesens. Wir müssen immer tiefer schauen, unter der Oberfläche unseres gegenwärtigen Verständnisses, da das Leben unendlich komplex ist. Es gibt kein endgültiges Ende dieser Zyklen, keine schließliche Vollkommenheit ein für alle Mal, sondern eine weitergehende Reihe sich immer weiter perfektionierender Vorgänge.

Es ist sehr tröstlich zu entdecken, dass sich die Natur selbst unentwegt wiederholt. Irgendwie ist sie sowohl endlos kreativ als auch endlos wiederholend in Bezug auf Form und Funktion. Genau wie das hermetische Axiom vorhersagt ist jede irdische Struktur selbst wiederum aus kleineren Strukturen gebildet, die das Muster wiedergeben und wiederholen und alle jene darunter transzendieren und umfassen. Jedes Leben ist auch aus einer vorübergehenden Konzentration von kleineren Leben gebildet, wie Arthur Koestlers Idee eines Holon: „Eine Wesenheit, die selbst ein Ganzes ist und gleichzeitig ein Teil eines anderen Ganzen.“ Alles ist lebendig und ein Leben. Die göttliche Reise bedeutet nicht, uns von der Natur zu befreien, weil die menschliche Natur, die Mutter Natur und die kosmische Natur alle eins sind. Es geht darum, uns von der Illusion zu befreien, dass sie essenziell verschieden sind. Der göttliche Pfad bedeutet, unseren Brennpunkt zu vergrößern, um nicht nur die Erde und ihre Umlaufbahn zu umfassen, sondern alle Planeten in unserem ganzen System. Es geht darum, unser persönliches Gravitationszentrum, unser Zentrum des kleinen Selbst-Fokus, zu verschieben und es von Neuem in die göttliche Sonne zu verlegen.

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Die meisten Menschen gehen unentschlossen, ungewiss auf das von ihnen gewählte Ziel zu; ihr Lebensstandard ist unbestimmt; folglich wirkt ihr Karma auf eine verwirrte Art. Wenn jedoch die Erkenntnisschwelle erreicht ist, nimmt die Verwirrtheit ab. Infolgedessen nehmen die karmischen Resultate gewaltig zu, denn wir handeln alle in der gleichen Richtung auf all den verschiedenen Ebenen. Die Individualität hat sich auf Grund des Wachstums einem Zustand der Verantwortlichkeit genähert, von dem sie nicht zurückweichen kann.